Glanzvolle Niederlagen
Amrullah hat die Niederlage zur Kunstform erhoben. Die Niederlagen, die er so eindrucksvoll errang, haben ihm eine kaum einholbare Spitzenposition unter den Flop-Ten des britischen Galoppwesens eingetragen.

Gerührt, fast wehmutsvoll sagte Mr.Thorn, ein Mann mit einem freundlichen Burgundergesicht und drei Unterkinnen: "Good-bye Amrullah. Britanien wird dich vermissen." Amrullah, 13, war ausnahmsweise so freundlich, ihm zu gestatten, bei dieser Meinung zu bleiben.Denn sonst in den vergangenen zehn Jahren hatte er sich stets das letzte Wort vorbehalten, besonders in der zwischen ihm und Mr. Thorn strittigen Frage, ob ein Pferd dazu verpflichtet sei, an Pferderennen teilzunehmen und vielleicht sogar eines zu gewinnen.
Amrullahs diesbezügliche Verweigerung hatte, vor allem wenn es um den Sieg ging, die Großartigkeit des Unbedingten: Obgleich zum Champion geboren, ging er niemals als Sieger durchs Ziel; selbst wenn er schon mit zehn Längen führte, wie vor drei Jahren in Ascot, fand er immer noch eine Möglichkeit, die Verfolger vorbeiziehen zu lassen. Damals entschied er sich dafür, auf den letzten 100 Metern nicht geradeaus, sondern direkt auf die Tribüne zuzulaufen. Amrullahs lethargische Einstellung gegenüber jedweder Form von Siegfleiß machte ihn zum Liebling der pferdesportbegeisterten Briten, einschließlich der Queen. Entsprechend war die Anteilnahme, als er sich 1993 vom aktiven Galopprennsport zurückzog - eine Zäsur in der Geschichte des Turfs, in die Amrullah als das Pferd eingeht, das die Niederlage zur Kunstform erhoben hat.
Von seinen 74 Rennen gewann Amrullah kein einziges. Einige Male ging der Wallach, eher durch Zufall denn mit Anstrengung, als Zweiter durchs Ziel. Einmal wurde er Dritter, bei einem Teilnehmerfeld von drei Pferden. Öfters kam er zwar als Erster an, aber ohne seinen Jockey; oder er behielt den Reiter zwar oben auf, nahm aber, die Regeln der Rennbahn nach Gutdünken interpretierend, eine Abkürzung über den Rasen.
Die Niederlagen, die Amrullah so eindrucksvoll errang, haben ihm eine kaum einholbare Spitzenposition unter den Flop-Ten des britischen Galoppwesens eingetragen. Weit abgeschlagen hinter ihm in der Liste der ewig Schlechtesten folgt, mit 50 Niederlagen in Serie, ein gewisser "Streaker" - der lief in den dreißiger Jahren und teilte mit Amrullah die Eigenart, während des Rennens gewaltige Winde streichen zu lassen. Von Jugend an gab es für Amrullah keinen Zweifel: Diese Welt, die gewohnt ist, nach Zwecken und Ergebnissen zu fragen, war nicht die seine. Mit einer Konsequenz und Überzeugung, vor der sich kein Respekt tief genug zu beugen vermag, verweigerte er sich den Zumutungen des Rennbetriebes - eher hätte man mit einem Porschefahrer über Tempo 100 diskutieren können als mit ihm über das Ansinnen, schneller zu laufen als er für angemessen hielt.
"Am Anfang jeder neuen Saison habe ich auf einen Sinneswandel seinerseits gehofft", begründete Mr.Thorn, weshalb er Amrullah immer wieder auf die Rennbahn schickte. Aber das Pferd blieb dabei: Geschwindigkeit sei zwar eine gute Sache, sollte aber immer moderat angewandt werden. Mit dieser sympathischen Einstellung trieb der edelstem Renngeblüt entstammende Amrullah alle in Verzweiflung, die mit ihm zu tun hatten: den Scheich, der ihn als Einjährigen für 94 000 brit.Pfund gekauft hatte, ebenso wie seine Trainer, die sich nicht anders zu behelfen wußten, als das regungsfaule Tier mit dem Geländewagen über die Felder zu scheuchen. Und überhaupt: Wie der Gaul schon aussah ! Die Mähne, fransig und voller Wirbel, mutete an wie mit einem Schneebesen frisiert. Sein Gang wirkte träge, in seinen Augen - sie hatten die Farbe von irischem Whiskey - wohnte Schlaf. "Wenn er ein Mensch wäre, würde er den ganzen Tag im Bett verbringen", sagt Mr.Thorn, der diesen Oblomow unter den Pferden im Jahre 1983 für 4700 Pfund erwarb.
Als erstes, wohl um die Rangordnung klarzustellen, brach Amrullah seinem neuen Trainer die Rippen, dessen Frau den Arm. Dann stürzte er sich, um nur der blöden Rennerei zu entgehen, während einer Strandgaloppade ins Meer und paddelte gen Westen, Richtung Amerika. Amrullah war schon anderthalb Seemeilen von der Küste entfernt, als ihn ein Fischersmann ins Schlepptau nahm. Amrullahs Ruhm drang sogar bis zur Queen, die ihn nach seiner glanzvollen Niederlage in Ascot zu sehen wünschte. Elizsabeth stand kaum vor ihm, da hatte er ihr schon den mit Maßliebchen, Nelken und so etwas wie gefrostetem Beerenobst geschmückten Hut vom Kopf geflippt. "Den findest Du wohl häßlich", scherzte die Königin - doch Amrullah gab keine Antwort, und wenigstens das rechnet ihm Mr.Thorn bis heute zum Guten, denn es wäre nicht chevaleresk gewesen, die alte Dame in Verlegenheit zu bringen.
"Gewiß, die Zeit mit ihm war nervenaufreibend", sagte Mr.Thorn während der großen Parade, mit der Britanniens Rennsportgemeinde Amrullah ins Gnadenbrot verabschiedete. "Aber irgendwie war er doch ein Gentleman".
Amrullah von Henry Glass aus dem SPIEGEL- Sonderheft 1947-1997, 50 Jahre der Spiegel, Seite 320. Wir danken dem Nachrichtenmagazin »DER SPIEGEL« für die Nachdruckgenehmigung.