An Freunde
Ihr habt mir zugewiehert als ich kam, weil Pferde ihren Freunden zuwiehern. Ihr habt meine mitgebrachten Karotten genommen und damit wurde euer Vertrauen in unsere Freundschaft einmal mehr bestärkt, denn Essen teilt Pferd nur mit dem besten Freund, Karotten vermutlich nur mit dem allerbesten. Noch einen Moment Mähnekraulen, jeder von euch teilt mit mir eine andere geheime Stelle, an der das Kraulen besonders angenehm ist.
Ja, irgendwie habt ihr Recht mit eurer Überzeugung von unserer unzerstörbaren Freundschaft, ich bin eure Freundin, bin euch voller Liebe zugetan. Ihr, und viele eurer Gattung vor euch, haben mein Leben von Kindesbeinen an so unendlich reich gemacht. Was habt ihr mich alles gelehrt und was lehrt ihr mich noch heute täglich. Aber manchmal belastet mich eure Freundschaft, immer dann, wenn ich bemerke, dass ich eurem Vertrauen zu mir und unserer Freundschaft mal wieder nicht gerecht wurde.
Schlechtes Gewissen tut keiner Freundschaft gut, sagt man. Ich hasse dieses Gefühl, mit diesem bohrenden, nagenden schlechten Gewissen zu euch zu gehen, und was macht ihr trotz und alledem?
Ihr wiehert mir zu, voller Freundschaft und freudiger Erwartung. In solchen Momenten hoffe ich, dass ihr nur auf die Karotten gewartet habt und weiß doch nur zu gut, dass diese Hoffnung illusorisch ist, Karotten sind eine gute Sache, aber Freundschaft hat bei euch einen anderen Stellenwert, ist lebenswichtig. Es wäre leichter für mich, ihr würdet mir den Hintern zudrehen, zumindest könnten eure Augen weniger vertrauensvoll sein, mal diesen abschätzenden, skeptischen Blick zeigen, den wir Menschen selbst bei Freunden kennen.
Menschliche Freunde trösten mich, sagen, ich hätte doch alles für euch getan; mehr, ja mehr hätte doch wirklich niemand tun können, was passierte, sei einfach nur Pech gewesen. Es wäre leichter, wenn es mein persönliches „Pech“ gewesen wäre, mir etwas passiert wäre, ich materiellen Besitz verloren hätte, doch es war nicht mein „Pech“, es war euer „Pech“. Ich habe für euch die Entscheidungen getroffen, doch ihr müsst nun mit den Folgen leben, das ist für mich kein Pech, kein Schicksalsschlag, das ist für mich meine Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Wisst ihr, wie schwer es ist, für euch die Verantwortung zu übernehmen? In eurer Welt wählt ihr euch eine Leitstute, vertraut ihrer Entscheidung euer Leben an und sie erweist sich dieses Vertrauens immer würdig. Sie sorgt für gute Weidegründe, Zeit, um mit Freunden zu ruhen oder zu spielen; sie sorgt für Bewachung, so dass ihr alle gemeinsam rechtzeitig auf Gefahren reagieren könnt, sie findet für euch Wasser, kurzum sie kann eure Welt in Ordnung halten. In meiner menschlichen Welt, in die ich euch hineingenommen habe, da bestimmen wir Menschen.
Über euer Zuhause, euer Essen, eure Freunde, über Zeit und Art der Bewegung, das Sattelzeug, eure Sportschuhe, es gibt nichts in eurem Leben, worüber der Mensch nicht bestimmt. Klar, mag sein, dass meine Entscheidungen für euch mitunter immer noch besser sind, als andere vielleicht entschieden hätten, nur, es geht um euer Leben und eure Bedürfnisse, nicht darum, möglicherweise irgendetwas ein bisschen besser als jemand anderes gemacht zu haben.
Unter uns Menschen gelten andere Spielregeln als bei euch: da wird schnell mal, nur um Ruhe zu haben oder zu gefallen, versprochen, etwas zu tun und dieses Versprechen dann nicht gehalten, weil es einfacher ist, es doch nicht zu tun. Oder das Versprechen wird gebrochen, weil ein anderer Mensch meinte, die Bitte sei überflüssig oder er wisse es gar besser. Da wird verschwiegen, was jemand nicht sagen will, und dafür gesagt, was sich besser anhört oder jemand vielleicht lieber hören will. Ja, in menschlichen Herden ist das normal, mitunter sind wir sogar so dreist, solch ein Verhalten noch als Höflichkeit zu glorifizieren! Niemand von uns Menschen aber käme auf die Idee, wenn einer von euch mit gespitzten Ohren und freundlichem Blick einen von uns so richtig treten würde, dies als Ausdruck besonderer Höflichkeit anzusehen. Ist das nicht seltsam?
Dabei versuchen doch ausgerechnet wir Menschen so gerne, euch zu vermenschlichen. Wie schnell wird über einen von euch geurteilt, ohne darüber nachzudenken, ob unsere menschlichen Schwächen wie Faulheit und Bequemlichkeit, Tricksereien und schlechter Wille wirklich auch eure Schwächen sind. Manchmal nur, und dann oft viel zu spät, stellt sich heraus, dass Steigen nicht Ausdruck schlechten Charakters, sondern simpler Rückenschmerz war, Gegen-die-Hand-Gehen ein Zahnproblem war, Verweigern durch Schmerzen bedingt war, mangelnde Leistung durch Lungenerkrankung ...
Wie schnell habt ihr uns „enttäuscht“, wenn ihr keine Bestleistung zeigtet und in Wirklichkeit wart ihr nur krank. Ja, wir Menschen urteilen gerne, da sind wir ganz schnell dabei. Nur Mitgefühl zu haben, das fällt uns schwer. Ihr wisst sofort, wie es um uns steht, wenn wir zu euch kommen, unsere Trauer, unsere Freude, die Ungeduld, die Heiterkeit, die Zuneigung, die Verurteilung, der Groll und die Enttäuschung... euch ist nichts zu verbergen.
Und ihr kennt alle unsere Hoffnungen und Erwartungen, erfüllt sie, wenn ihr sie versteht, weil ihr fühlen könnt, dass sie uns wichtig sind. Ihr setzt euch ein für unsere Wünsche und ihr ertragt uns geduldig... im wahrsten Sinne des Wortes und seid dankbar für ein kleines Lob und Anerkennung. Ein wenig Zuwendung, ein gutes Wort und die Karotte als Zeichen der Freundschaft.
Das Wertvollste, was uns Menschen auszeichnet, ist Empathie. Mit Empathie kann man keine Kriege führen, keine Finanzkrise heraufbeschwören, keine Natur ausbeuten (auch euch nicht) keine Kinder misshandeln, nicht foltern... Empathie ist mehr als nur Mitgefühl, ist, wie die Indianer so treffend sagen, die Fähigkeit „in den Mokassins eines anderen gehen“. Empathie heißt nicht, nicht zu fördern und zu fordern, aber Empathie überfordert nicht, denn Empathie heißt, den Anderen in seinen Bedürfnissen und seiner Andersartigkeit anzuerkennen.
Ehrlichkeit und Empathie, dafür seid ihr großartige Lehrmeister, doch was passiert, wenn wir die Grundlektionen begriffen haben? Dann ist es uns nicht mehr gleichgültig, ob eure Bedürfnisse in Bezug auf freie Bewegung, in Bezug auf Fütterung auch wirklich gedeckt sind, ob eure Schuhe passen, welche Ausrüstung wir benutzen, ob ein Hilfszügel euer Gesichtsfeld einengt und eure Bewegung blockiert, ob ihr Freunde habt, ob ihr krank seid, ob ihr Schmerzen habt, kurz, ob wir unserer Verantwortung für euch gerecht werden.
Und wenn wir dann in eurem Interesse entscheiden, sagen die anderen manchmal, wir seien schwierig. Mitunter müssen wir es sein, für euch, denen wir das schuldig sind, und für uns, die eure Freundschaft so reich macht.
Dorothe