EDV Desaster - Platinierte Mitarbeiter oder Anleitung zum Unglücklichsein

Cartoon: Erik Liebermann
Cartoon: Erik Liebermann

Um es vorauszuschicken, wir sind treu. Sehr treu sogar. Wir haben heute noch Lieferanten, die uns bereits vor 30 Jahren beliefert haben und es sind nicht die schlechtesten, im Gegenteil. Und wir hatten vor dreißig Jahren auch schon eine gut funktionierende EDV. Zum damaligen Zeitpunkt war diese auch höchst modern und wir wurden beneidet, 5 Jahre später hatte sich das mit dem Neid erledigt, weitere 15 Jahre später wurden wir allenfalls bemitleidet, so ist das mit der EDV.

Der Chef des Hauses übersah etliche Jahre geflissentlich die unter hochgezogenen Augenbrauen verdrehten Augen bei gleichzeitig sorgenvoll gerunzelter Stirn speziell seitens neuer Mitarbeiter beim Anblick der in die Jahre gekommenen Bildschirmmaske. Zugegeben, diese EDV setzte eine gewisse Virtuosität im Eingabefeld voraus, sollte der Arbeitsplatz nicht zum Abenteuerspielplatz werden. Dieses in Ehren ergraute EDV- System war wie ein guter englischer Maßanzug aus edlem und gleichzeitig belastbarem Tweed nebst handgenähten Schuhen. Es saß, es erfüllte unsere Anforderungen, konnte von seinem mittlerweile ebenfalls ergrauten Entwickler immer wieder neuen Wünschen, alias neuem Schnitt angepasst werden, erwies sich als absolut knitterfrei, die Nähte hielten und das gute Stück behielt in jeder Lebenslage Fasson. Und ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorteil bestand darin, dass dieses nur für uns entwickelte Programm für Hacker uninteressant war, sprich Ihre Daten bei uns absolut sicher aufgehoben waren. Eine der großen Sorgen der Geschäftsleitung und deshalb haben wir auch weitere Programme, die ebenfalls nur für uns entwickelt wurden, wie z.B. das Programm für die Fütterungsberatung oder aber das Programm für die Herstellung nebst Einkauf und QS. Und dann noch ein eigenes Buchhaltungsprogramm, mit dem unser ehrwürdiges Programm des Verkaufs zuverlässig und problemfrei kommunizierte.

Die langjährigen Kunden unter Ihnen werden sich erinnern, dass wir in dreißig Jahren kein einziges Mal klagten, unsere EDV habe irgendetwas verbockt, das waren schon wir selbst, falls ein Paket nicht ankam oder falsche Ware versandt wurde etc.. Die Welt war in Ordnung, Ihre Daten sicher, nach einer gewissen Einarbeitungszeit freundeten sich auch neue Mitarbeiter mit dem Programm an, doch plötzlich verstarb der Entwickler dieses passgenauen Wunderwerkes völlig unerwartet und mitten im Arbeitsleben.

Nun konnte niemand mehr bei Programmänderungen helfen und so beschloss die Geschäftsleitung, ein neues Programm entwickeln zu lassen, das den Besonderheiten unseres Betriebes optimal angepasst werden könnte. Die Vorstellung, Betriebsabläufe einem EDV-Programm anzupassen, erschien dem Chef nicht weniger irrational, als sich für einen Schuh von der Stange die Zehen oder ein Stück Ferse abhacken zu lassen. Da der Programmierer unseres Programmes für Einkauf, QS, Rezepturverwaltung, Herstellung, Rückverfolgbarkeit, Fütterungen etc. im Jahre 2014 bedauerlicherweise immer noch an der eigentlich schon für Januar 2013 zugesagten Fertigstellung zugange war, schlug er aufgrund der gebotenen Eile (und in Kenntnis seiner eigenen Terminuntreue) ein ihm vom Hörensagen international bekanntes Genie vor, das leibhaftig zu bewundern wir kurz darauf Gelegenheit erhalten sollten.

Cartoon: Erik Liebermann

Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir: "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen!", und ich lächelte und war froh, und es kam schlimmer...!

Wir schleppten die mit unserem Anforderungskatalog prall gefüllten Aktenordner herbei, das Genie warf einen kurzen Blick hinein, sah uns mitleidig lächelnd an und meinte lapidar, die Programmierung derartiger Lächerlichkeiten habe er in der Schublade. Er sei, dank seiner jahrelangen Erfahrung in Programmentwicklungen für ganz große Finanzdienstleister, wahrlich komplexere Aufgaben zu bewältigen gewohnt. Und kurz darauf erhielten wir auch Filmchen, die uns unser neues Programm vorstellten, genauer gesagt eher klitzekleine Teilchen eines Programmes, das in der Tat gar nicht schlecht aussah. Wir harrten der Dinge, erhielten eine Übungsversion, mit der wir einen Neukunden anlegen und eine virtuelle Bestellung eingeben konnten und zudem die Zusicherung, dass sowohl die Anbindung des Onlineshops, wie auch die Anbindung des Versandes und natürlich auch die Übergabe an das Buchhaltungsprogramm lächerliche Lappalien wären. Lager mit Chargenverwaltung sei auch Pipifax, das sollte alles am Tag X der Umstellung funktionieren. Natürlich könne es, wie sattsam bekannt unter Fachleuten, das eine oder andere kleine Problemchen geben, aber dafür habe er sich drei Tage Zeit genommen, um vor Ort sowohl für Fragen seitens der Mitarbeiter zur Verfügung zu stehen als auch evtl. auftretende Problemchen genial und effizient zu lösen.

Der große Tag kam und die größte Katastrophe in unserer Firmengeschichte nahm ihren Lauf. 10 Tage lang konnte weder ein Paket versendet, noch eine Rechnung geschrieben werden. Am 11. Tag konnte zwar versendet werden, am 13. Tag konnten sogar Rechnungen geschrieben werden, nur lief das in der Praxis wie folgt ab:

Kunde A bestellte ein Produkt, Kunde B erhielt die Ware und, um die Malaisen zu komplettieren, wurde vom Konto von Kunde C der Rechnungsbetrag abgebucht. Verständlicherweise rief Kunde A enerviert an, wo seine Ware bliebe, B verlangte mit mehr oder weniger Nachsicht sofort eine Freeway-Marke für die Abholung der von ihm nie bestellten Ware und was C berechtigterweise zu dieser Form der Abwicklung sagte, können Sie sich sicherlich vorstellen! Unsere neue EDV schaffte es tatsächlich, mit einer einzigen Bestellung von z.B. 500 g Magnoquiet® drei Kunden zu verärgern und zudem jeden Mitarbeiter im Hause grenzenlos unglücklich zu machen.

Was war eigentlich passiert? Bekanntes Unwissen traf auf unbekanntes Wissen in Tateinheit mit unbekanntem Nichtwissen.

Unser persönliches Unwissen war uns bekannt und hätten wir über ausreichendes Wissen verfügt, wäre die Hinzuziehung eines Fachmannes auch überflüssig gewesen. Die tragische Erkenntnis, dass unser vermutetes Genie eine Mischung aus unbekanntem Wissen und unbekanntem Nichtwissen in einer einzigen Person vereinte, kam leider zu spät. Unbekanntes Wissen sind Vermutungen, die noch nicht überprüft wurden, unbekanntes Nichtwissen aber ist wahre, großartige, ja überwältigende Ignoranz, denn dies bedeutet nicht nur etwas nicht zu wissen, sondern zudem nicht zu wissen, dass man etwas nicht weiß! Dieses Wissen kann man sich deshalb auch gar nicht aneignen, da einem ja gar nicht klar ist, dass es einem fehlt!

Sein unbekanntes Wissen ließ das Genie zu der Überzeugung gelangen, wer ein Programm für einen Finanzdienstleister entwickeln kann, der damit mehrfach täglich Milliardenbeträge um den Globus schickt, der kann an der Abwicklung eines Auftrages von 500 g Magnoquiet® nicht scheitern. Unsere Vorstellung von den Gefahren des Finanzsystems erhielt eine neue schillernde Facette.

Sein unbekanntes Nichtwissen sprengte allerdings alle Grenzen unserer Vorstellungskraft, denn er ging tatsächlich davon aus, Testläufe würden überbewertet, Schnittstellen müssten auch nicht getestet werden, denn alle anderen EDV-Programme seien von Einfaltspinseln geschrieben und somit inert zwei Minuten an sein unbekanntes Wissen anzubinden.

Sie hatten mit der Umstellung seit Ende September und haben mitunter noch bis heute unter unserer Entscheidung alias unserem Vertrauen zu leiden. Ja, wir haben vertraut. Man kann uns zudem vorwerfen, dass wir kein Programm von der Stange gekauft haben und wahlweise die Betriebsabläufe dem Programm angepasst oder das gekaufte Programm von der Stange an den Betrieb haben anpassen lassen. Letzteres führt nach unseren Erkundigungen allerdings auch gerne mal in chaotische Zustände, Existenzbedrohung inklusive.

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Cartoon: Erik Liebermann

Seit Monaten arbeitet ein Fachmann (juhu, er verfügt über bekanntes Wissen!) an der Fehlerbeseitigung, denn nach der Umstellung konnten wir leider nicht mehr zu unserem alten System zurückkehren. Allerdings funktioniert das Programm immer noch nicht fehlerfrei und einige Programmteile müssen völlig neu programmiert werden. Bis heute sind unsere Mitarbeiter mit enormem Mehraufwand für Kontrollen belastet und bis heute sind Sie vermutlich mitunter ebenfalls mehr belastet, was wir aufrichtig bedauern und wofür wir um Verständnis bitten.

Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist: wir sollen spätestens bis Ende des Jahres eine wirklich reibungslos funktionierende EDV, die sämtliche Anforderungen erfüllt, haben. Drücken Sie uns mal die Daumen, bitte!

Dr. med. vet. Dorothe Meyer